XXVI
Was dieser unheilvollen Nacht folgte, wissen
Sie so gut wie ich. Aber Sie wissen nicht, Sie können nicht ahnen,
wie ich seit unserer Trennung litt.
Ich erfuhr, daß Ihr Vater Sie mitgenommen hatte. Aber ich fühlte,
daß Sie nicht lange fern von mir leben könnten. An dem Tag, als ich
Ihnen auf den Champs-Elysées begegnete, war ich erregt, aber nicht
erstaunt.
Nun kamen die vielen Tage, die mir täglich neue Beleidigungen
brachten. Ich erduldete sie alle fast mit Freude. Denn einmal war
es ein Beweis, daß Sie mich noch liebten, und dann schien mir, daß
ich, je mehr Sie mich beschimpften, um so höher in Ihrer Achtung
steigen würde, wenn Sie einmal die Wahrheit erführen. Wundern Sie
sich nicht über dieses freudige Martyrium, Armand. Ihre Liebe zu
mir hatte die edelsten Empfindungen in meinem Herzen geweckt, doch
war ihm die notwendige Stärke nicht sogleich gegeben.
In der Zeit zwischen meinem Verzicht und Ihrer Rückkehr - es war
eine lange Zeit - hatte ich Hilfe nötig und brauchte etwas, um
nicht toll zu werden, um das Leben, in das ich mich stürzte, nicht
zu empfinden. Prudence hat Ihnen sicherlich erzählt, daß ich auf
jedem Ball, auf jeder Festlichkeit war und an allen Ausschweifungen
teilnahm. Ich hoffte, mich dadurch zu töten. Und ich glaube, diese
Hoffnung wird nun bald Wirklichkeit. Meine Gesundheit
verschlechtert sich naturgemäß immer mehr. An dem Tage, als ich
Frau Duvernoy zu Ihnen schickte, war ich körperlich und seelisch am
Ende meiner Kräfte.
Ich wiederhole nicht, Armand, wie Sie mir auf den letzten Beweis
meiner Liebe geantwortet haben, durch welche Schmach Sie die Frau,
die sterbend der Stimme, die sie um eine Liebesnacht bat, nicht
widerstehen konnte, aus Paris vertrieben haben. Wie eine Umnachtete
hatte sie geglaubt, die Gegenwart und die Vergangenheit vereinen zu
können. Aber Sie, Armand, hatten das Recht, so zu handeln, wie Sie
es taten. Man hat mir nicht immer meine Nächte so hoch bezahlt. Nun
ist für mich alles zu Ende. Olympia ist jetzt an meiner Stelle beim
Grafen von N... Sie hat ihn, wie man mir sagte, über die Gründe
meiner plötzlichen Abreise aufgeklärt. Der Graf von G... war in
London. Er ist einer der Männer, die den Mädchen meiner Art für
ihre Liebe das geben, was sie wert ist. Wenn ihre Zeit vorbei ist,
dann bleiben sie den Frauen, die sie besessen haben, ohne Haß und
ohne Eifersucht, Freunde. Er ist einer der Edelmänner, die uns ihr
Herz nur ein wenig, aber ihre Geldbörse ganz öffnen. An ihn
erinnerte ich mich damals und fuhr zu ihm. Er nahm mich sehr
freundlich auf. Aber er war dort der Geliebte einer vornehmen Dame
und fürchtete, sich mit mir ins Gerede zu bringen. Er stellte mich
seinen Freunden vor, man gab mir ein Essen, und anschließend nahm
mich einer von ihnen mit.
Was sollte ich tun, mein Freund? Mich töten? Das hätte Sie nur
belastet. Wer könnte mit furchtbaren Gewissensbissen glücklich
leben? Und warum soll man sich töten, wenn man dem Tode so nahe ist
wie ich? Ich wurde ein Körper ohne Seele, ein Wesen ohne Gedanken.
Einige Zeit lebte ich so dahin. Dann kehrte ich nach Paris zurück.
Ich fragte nach Ihnen und erfuhr, daß Sie sich auf eine weite Reise
begeben hatten. Nichts hielt mich mehr. Mein Leben wurde wieder so,
wie es zwei Jahre früher war, bevor ich Sie kennenlernte. Ich
versuchte, den Herzog wiederzugewinnen. Aber erfolglos, denn ich
hatte diesen Mann zu grausam verletzt. Und ältere Männer sind nicht
sehr duldsam, vielleicht weil sie wissen, daß das Leben nicht ewig
währt. Meine Krankheit wurde täglich schlimmer. Ich wurde blaß,
traurig und noch viel magerer. Männer, die Liebe kaufen, prüfen
das, was sie kaufen wollen, zuvor. Es gab in Paris Frauen, die sich
besser fühlten und voller waren als ich. Man vergaß mich ein wenig.
Das sind die Ereignisse bis gestern.
Jetzt bin ich ernstlich krank. Ich schrieb dem Herzog und bat ihn
um Geld, weil ich nichts mehr habe und die Gläubiger unnachsichtig
ihre Rechnungen bezahlt haben wollen. Wird der Herzog mir
antworten? Warum sind Sie nicht in Paris, Sie würden zu mir kommen,
Armand, und Ihre Besuche würden mir guttun.
20. Dezember Es ist sehr schlechtes Wetter, es schneit und ich bin
allein. Seit drei Tagen habe ich so hohes Fieber, daß ich Ihnen
nicht ein Wort schreiben konnte. Es gibt nichts Neues zu berichten,
mein Freund. Ich hoffe eigentlich täglich auf einen Brief von
Ihnen. Aber es kommt keiner, und es wird auch keiner kommen.
Einsame Menschen haben die Kraft, nicht zu verzeihen. Der Herzog
hat nicht geantwortet. Prudence hat ihren Weg zum Leihhaus wieder
aufgenommen. Ich huste unentwegt Blut. Oh, Sie würden traurig sein,
wenn Sie mich sähen. Wie glücklich müssen Sie sein, Sie leben in
heißen Ländern und kennen keinen eisigen Winter, der Ihnen auf der
Brust lastet wie mir. Heute bin ich ein wenig aufgestanden. Hinter
meinen Vorhängen sah ich das Pariser Leben vorbeihasten. Ich
glaube, damit habe ich für immer gebrochen. Einige bekannte
Gesichter gingen vorüber, rasch, sorglos, fröhlich. Nicht einer hob
die Augen zu meinem Fenster. Aber einige junge Leute hinterließen
ihre Karte. Ich war schon einmal krank, und Sie, der Sie mich nicht
kannten, und von mir unhöflich empfangen worden waren, als Sie zum
erstenmal in meine Loge kamen, Sie fragten jeden Morgen nach meinem
Befinden. Nun bin ich wieder krank. Wir haben sechs Monate
zusammengelebt. Ich habe für Sie so viele Liebe
empfunden, wie ein Frauenherz nur schenken kann. Und nun sind Sie
fern und denken schlecht von mir. Und nicht ein Trostwort haben Sie
für mich. Aber es ist nur der Zufall, der uns trennt. Denn wären
Sie in Paris, das fühle ich, würden Sie mein Zimmer und mein
Krankenbett nicht verlassen.
25. Dezember Mein Arzt hat mir verboten, jeden Tag zu schreiben.
Tatsächlich treiben die Erinnerungen das Fieber in die Höhe. Aber
gestern erhielt ich einen Brief, der mir wohltat, mehr durch die
ausgedrückten Gefühle als durch die materielle Hilfe, die er mir
brachte. Also kann ich Ihnen heute schreiben. Der Brief war von
Ihrem Vater, und dies ist sein Inhalt: ,Gnädige Frau, soeben
erfahre ich, daß Sie krank sind. Wäre ich in Paris, würde ich
sofort selber zu Ihnen kommen und mich nach Ihrem Befinden
erkundigen. Und wäre mein Sohn hier, ich würde ihn zu Ihnen
schicken. Aber ich kann C... nicht verlassen, und Armand ist sechs-
oder siebenhundert Meilen weit fort von hier. Erlauben Sie mir
also, Ihnen zu schreiben, gnädige Frau, wie sehr mich Ihre
Krankheit beunruhigt. Nehmen Sie meine aufrichtigen Wünsche zu
Ihrer baldigen Genesung entgegen. Einer meiner Freunde, Herr H...,
wird sich bei Ihnen melden. Empfangen Sie ihn, bitte, er hat einen
Auftrag von mir bekommen, dessen Erledigung ich mit Ungeduld
erwarte. Meine aufrichtigsten Empfehlungen.' Diesen Brief erhielt
ich. Ihr Vater hat ein edles Herz. Lieben Sie ihn sehr, mein
Freund. Denn es gibt nur sehr wenige Männer in der Welt, die so
sehr verdienen, geliebt zu werden, wie er. Dieses Blatt mit seiner
Unterschrift tat mir wohler als alle Verordnungen des Arztes. Heute
morgen kam Herr H... Er schien sehr befangen zu sein wegen des
schwierigen Auftrages, mit dem Ihr Vater ihn zu mir schickte. Er
brachte mir tausend Francs von Ihrem Vater. Ich wollte das Geld
nicht annehmen, aber Herr H... sagte mir, damit würde ich Herrn
Duval beleidigen. Er habe mir zunächst diese Summe zu geben, und
ich würde alles erhalten, was ich noch weiter benötige. Ich nahm es
also an, denn von seiten Ihres Vaters ist es kein Almosen. Wenn ich
bei Ihrer Rückkehr nicht mehr lebe, dann zeigen Sie Ihrem Vater,
was ich über ihn schreibe, und sagen Sie ihm, daß das arme Mädchen,
dem er diesen tröstlichen Brief schrieb, Tränen vergoß über diese
Zeilen und ihn in ihre Gebete einschloß.
4. Januar Ich habe eine Reihe schmerzvoller Tage hinter mir. Ich
wußte nicht, daß der Körper so leiden kann. Oh, ich muß heute
doppelt für meine Vergangenheit zahlen. Man wacht jede Nacht bei
mir. Ich kann nicht mehr atmen. Fieber und Husten teilen sich in
das bißchen Leben, das ich noch habe. In meinem Eßzimmer häufen
sich Konfekt und Geschenke aller Art, die man mir bringt. Sicher
kommen diese Gaben auch von Männern, die hoffen, daß ich später
einmal ihre Geliebte werde. Wenn Sie sehen würden, was die
Krankheit aus mir gemacht hat, würden sie erschrocken fliehen.
Prudence verwendet alles für ihre Neujahrsgeschenke. Es friert
draußen, und der Arzt hat gesagt, ich könne in wenigen Tagen
ausgehen, wenn das klare Wetter anhält.'
8. Januar Gestern bin ich in meinem Wagen ausgefahren. Das Wetter
war herrlich. Die Champs-Elysées waren voller Spaziergänger. Man
konnte von Frühlingsahnen sprechen. Alles um mich herum sah
festlich aus. Ich hätte nie geglaubt, in einem Sonnenstrahl soviel
Sanftheit, Trost und Freude finden zu können. Ich begegnete fast
allen Menschen, die ich kenne. Sie waren heiter und erfüllt von
ihren Angelegenheiten. Wie glücklich sind sie und wissen es nicht!
Olympia fuhr in einem eleganten Wagen vorüber, den der Graf von
N... ihr geschenkt hat. Sie versuchte, mich mit Blicken zu
beleidigen. Sie weiß nicht, wie fern mir alle Eitelkeit liegt. Ein
junger Mann, den ich schon lange kenne, fragte mich, ob ich mit ihm
und einem seiner Freunde, der gerne meine Bekanntschaft machen
möchte, zu Abendessen würde.
Ich lächelte traurig und reichte ihm meine fieberheiße Hand. Ich
habe nie ein erstaunteres Gesicht gesehen. Um vier Uhr kehrte ich
nach Hause zurück und aß mit einigem Appetit.
Diese Spazierfahrt hat mir gutgetan. Wenn ich doch gesund
würde!
Merkwürdig, wie doch der Anblick der Lebensfreude und des Glückes
der anderen bei denen wieder den Wunsch zum Leben entfacht, die
gestern noch in der Einsamkeit ihres Herzens und im Dunkel ihrer
Krankenzimmer den Tod herbeisehnten!
10. Januar Die Hoffnung auf Genesung war nur ein Traum. Ich liege
wieder zu Bett, den Körper mit brennenden Pflastern bedeckt. Man
sollte diesen Körper, für den einst so viel bezahlt wurde, jetzt
anbieten und sehen, was man heute dafür geben würde. Wir müssen
schon vor unserer Geburt Fehler begangen haben, oder nach unserem
Tode erwarten uns selige Himmelsfreuden, denn wie könnte Gott sonst
zulassen, daß dieses Leben so
voller Sühnequalen und Schmerzprüfungen ist? Ich leide noch
immer.
12. Januar Gestern sandte der Graf von N... mir Geld. Ich nahm es
nicht an. Ich will nichts mehr von diesem Mann. Er ist schuld
daran, daß Sie nicht mehr bei mir sind.
Oh, wo sind die schönen Tage von Bougival!
Wenn ich dieses Zimmer noch einmal lebend verlassen kann, dann
werde ich eine Pilgerfahrt zu jenem Haus antreten, in dem wir so
glücklich miteinander lebten. Aber ich werde es nur noch als Tote
verlassen können. Wer weiß, ob ich Ihnen morgen noch schreiben
kann?
25. Januar Elf Nächte schon kann ich nicht schlafen. Ich meine zu
ersticken. Jeden Augenblick glaube ich, es geht zu Ende. Der Arzt
hat mir verboten, die Feder in die Hand zu nehmen. Julie Duprat,
die bei mir wacht, erlaubt mir aber, Ihnen ein paar Zeilen zu
schreiben. Kommen Sie nicht mehr zurück, bevor ich sterbe? Ist es
wirklich für immer aus zwischen uns? Ich glaube, wenn Sie
zurückkämen, würde ich gesund. Aber wozu gesund werden?
28. Januar Heute morgen erwachte ich durch laute Geräusche. Julie
schlief in meinem Zimmer. Sie stürzte ins Eßzimmer. Ich hörte
Männerstimmen, gegen die sie vergebens ankämpfte. Weinend kam sie
zu mir zurück. Man pfändet. Ich sagte, sie solle dem, was man
Gerechtigkeit nennt, seinen Lauf lassen. Der Gerichtsvollzieher kam
mit dem Hut auf dem Kopf in mein Zimmer. Er öffnete alle Schubladen
und notierte alles, was er sah. Er schien nicht zu bemerken, daß
eine Sterbende in dem Bett lag, das die Barmherzigkeit des Gesetzes
mir läßt. Bevor er ging, sagte er mir, ich könne bis zum neunten
Tage Berufung einlegen. Aber er hat einen Wächter zurückgelassen.
Diese Szene hat mich noch kränker gemacht. Prudence wollte den
Freund Ihres Vaters um Geld bitten. Ich habe mich dagegen
gesträubt.
2. Februar Heute morgen habe ich Ihren Brief erhalten. Ich hatte
ihn so nötig! Wird Sie meine Antwort noch rechtzeitig erreichen?
Werden Sie mich noch sehen? Ich verlebte einen schönen Tag, der
mich alles, was ich seit sechs Wochen durchmachte, vergessen ließ.
Ich glaube, es geht mir besser, trotz der traurigen Stimmung, in
der ich Ihnen antworte. Man muß also nicht immer unglücklich sein.
Wenn ich mir ausmale, daß ich nicht stürbe, daß Sie zurückkämen,
daß ich den Frühling wieder erlebte, daß wir uns wieder liebten und
das Leben des vorigen Sommers wieder begännen!
Ich bin von Sinnen. Kaum kann ich die Feder halten, mit der ich
Ihnen diesen unwahrscheinlichen Traum meines Herzens
schreibe.
Wie es auch kommen mag, Armand, ich liebte Sie sehr. Ich wäre
längst nicht mehr am Leben, wenn mich die Erinnerung an diese Liebe
nicht aufrichtete und ich nicht die schwache Hoffnung hätte, Sie
noch einmal wiederzusehen.
4. Februar Der Graf von G... ist zurückgekommen. Seine Geliebte hat
ihn betrogen. Er liebte sie sehr. Er kam, um mir das alles zu
erzählen. Seine Geldangelegenheiten stehen nicht zum besten. Und
dennoch hat er den Gerichtsvollzieher bezahlt und den Wächter
dadurch entfernt. Ich erzählte ihm von Ihnen, und er versprach mir,
Ihnen auch von mir zu erzählen. Ich hatte darüber ganz vergessen,
daß ich einmal seine Geliebte war, und er half mir dabei. Er hat
ein gutes Herz. Gestern ließ der Herzog sich nach meinem Befinden
erkundigen. Heute morgen kam er selber. Ich weiß nicht, was diesen
alten Mann noch am Leben erhält. Drei Stunden saß er neben mir und
sprach nicht zwanzig Worte. Er weinte zwei große Tränen, als er
sah, wie blaß ich bin. Er weinte diese Tränen sicher in Erinnerung
an den Tod seiner Tochter. Er muß sie zweimal sterben sehen. Sein
Rücken ist gebeugt, sein Kopf neigt sich vor, seine Lippe hängt
herunter, sein Blick ist unklar. Das Alter und der Schmerz lasten
mit ihrem doppelten Gewicht auf seinem erschöpften Körper. Er hat
mir keine Vorwürfe gemacht. Man hätte glauben können, der Anblick
meines durch Krankheit verwüsteten Körpers sei ihm im geheimen eine
Genugtuung. Er schien stolz darauf zu sein, noch aufrecht stehen zu
können, während ich, noch jung, leidend darniederliege.
Jetzt ist das Wetter wieder schlecht geworden. Niemand kommt zu
mir. Nur Julie wacht bei mir, sooft sie kann. Prudence, der ich
kein Geld mehr geben kann wie früher, hält sich unter dem Vorwand
von Geschäften fern. Jetzt bin ich dem Tode sehr nahe, trotz allem,
was die Ärzte mir sagen. Denn ich habe mehrere, und das ist ein
Zeichen, daß die Krankheit schlimmer wird. Fast bedauere ich, Ihrem
Vater gehorcht zu haben. Wenn ich gewußt hätte, daß ich nur noch
ein Jahr zu leben habe, ich hätte dem Wunsch nicht widerstanden,
dieses Jahr Ihrer Zukunft für mich zu beanspruchen, es mit Ihnen zu
verleben.
Dann könnte ich sterbend die Hand eines Freundes halten. Aber es
ist wahr, wenn ich mit Ihnen zusammengelebt hätte, müßte ich nicht
so bald schon sterben. Gottes Wille geschehe.
5. Februar Oh, kommen Sie, kommen Sie, Armand! Ich leide furchtbar!
Mein Gott, ich muß sterben. Gestern war ich so traurig, daß ich
nicht zu Hause bleiben wollte. Ich fürchtete mich vor dem Abend,
der ebensolang werden würde wie der vorherige. Der Herzog war
morgens gekommen. Ich glaube, der Anblick dieses Mannes, den der
Tod vergessen hat, bringt mich noch eher ins Grab. Trotz des hohen
Fiebers habe ich mich angezogen und mich ins Vaudeville fahren
lassen. Julie hatte mir Rouge aufgelegt, ohne das ich wie eine
Leiche ausgesehen hätte. Ich saß in der Loge, in der wir uns zum
erstenmal begegneten. Die ganze Zeit über blickte ich auf den
Platz, auf dem Sie damals saßen. Gestern saß dort ein rechter
Flegel, der über die Späße der Schauspieler laut lachte. Halbtot
hat man mich nach Hause getragen. Die ganze Nacht hustete ich Blut.
Heute kann ich nicht mehr sprechen und kaum noch meine Arme
bewegen. Mein Gott, mein Gott, ich muß sterben. Ich habe das
erwartet. Aber ich kann mir nicht vorstellen, daß man noch mehr
leiden kann als ich, und wenn ...« Von diesen Worten ab waren die
wenigen Schriftzüge, die Marguerite noch versucht hatte, nicht mehr
leserlich. Julie Duprat hatte weitergeschrieben.
18. Februar Herr Armand, seit dem Tage, an dem Marguerite im
Theater war, wurde sie immer kränker. Sie hatte vollständig die
Sprache verloren, dann konnte sie auch ihre Glieder nicht mehr
bewegen. Man kann unmöglich beschreiben, was unsere arme Freundin
leidet. Ich bin derartige Schrecken nicht gewohnt und lebe in einer
ständigen Angst. Wie sehr wünsche ich, Sie wären bei uns!
Marguerite phantasiert fast immer. Aber ob sie phantasiert oder bei
klarem Verstand ist, immer ruft sie Ihren Namen, wenn sie einen Ton
von sich geben kann. Der Arzt sagte mir, daß sie nicht mehr lange
leben wird. Seit sie so schwer krank ist, ist der Herzog nicht mehr
wiedergekommen. Er hat dem Arzt gesagt, daß der Anblick ihm zu
schmerzlich sei. Frau Duvernoy benimmt sich nicht nett. Diese Frau,
die hoffte, von Marguerite noch mehr Geld zu bekommen, nachdem sie
schon fast ausschließlich auf deren Kosten lebte, ist
Verpflichtungen eingegangen, die sie nicht halten kann. Jetzt, wo
ihre Nachbarin ihr nicht mehr nützlich sein kann, kommt sie nicht
einmal, um sie zu besuchen. Alle verlassen sie. Herr von G...
mußte, wegen seiner Schulden hier, nach London abreisen. Vor seiner
Abreise hat er uns noch etwas Geld geschickt. Er hat getan, was er
konnte. Aber man hat wieder gepfändet. Die Gläubiger warten nur
noch den Tod ab, um die Versteigerung vorzunehmen. Ich wollte mein
letztes Geld geben, um das Pfänden zu verhindern. Aber der
Gerichtsvollzieher sagte mir, das sei unnütz. Jetzt, wo sie sterben
wird, ist es vielleicht besser, all ihren Besitz herzugeben, als
ihn für ihre Familie zu retten, von der sie nichts wissen wollte
und die auch sie nie geliebt hat. Sie können sich nicht vorstellen,
in welch glänzendem Elend das arme Mädchen stirbt. Gestern hatten
wir kein Geld mehr. Silber, Schmuck, Schals, alles ist gepfändet.
Das übrige ist verkauft oder schon im Leihhaus. Marguerite nimmt
das, was um sie herum vor sich geht, noch wahr. Sie leidet mit
ihrem Körper, mit ihrem Herzen und mit ihrer Seele. Große Tränen
rollen über ihre Wangen, die so blaß und eingefallen sind, daß Sie
das geliebte Antlitz nicht wiedererkennen würden. Sie nahm mir das
Versprechen ab, Ihnen zu schreiben, wenn sie es nicht mehr könne.
Ich schreibe unter ihren Blicken. Sie schaut zu mir hin, aber sie
sieht mich nicht. Ihr Blick ist durch den nahen Tod schon
abgekehrt. Aber sie lächelt, und alle ihre Gedanken und Gefühle
sind bei Ihnen, dessen bin ich sicher.
Jedesmal, wenn die Türe aufgeht, erhellen sich ihre Augen. Sie
glaubt immer, Sie würden eintreten. Wenn sie dann merkt, daß Sie,
Herr Armand, es nicht sind, nimmt ihr Gesicht wieder den
schmerzvollen Ausdruck an. Kalter Schweiß steht ihr auf der Stirn,
und ihre Wangen sind purpurrot.
19. Februar, Mitternacht Heute war ein sehr trauriger Tag, mein
lieber Herr Armand. Marguerite hatte heute morgen große Atemnot.
Der Arzt ließ ihr zur Ader, und sie konnte dann wieder ein wenig
sprechen. Der Arzt empfahl, einen Priester kommen zu lassen. Sie
war damit einverstanden. Er holte selber einen Abt von Saint-Roche.
Inzwischen rief Marguerite mich zu sich. Sie bat mich, ihren
Schrank zu öffnen. Dann zeigte sie auf eine Haube und auf ein
langes, spitzenbesetztes Hemd und sagte mit schwacher
Stimme:
,Ich werde mit den Sakramenten versehen sterben. Dann zieh mir das
an! Es ist die Eitelkeit einer Sterbenden.' Darauf küßte sie mich
unter Tränen und fügte hinzu: ,Ich kann sprechen, aber es fällt mir
so schwer... das Sprechen. Ich ersticke! Luft!'
Ich brach in Tränen aus und öffnete das Fenster. Kurz darauf kam
der Priester. Ich ging ihm entgegen.
Als er erfuhr, zu wem er kam, fürchtete er offenbar, sein Besuch
wäre nicht willkommen.
,Treten Sie nur ein, Hochwürden', sagte ich zu ihm. Er blieb nicht
lange im Krankenzimmer. Als er herauskam, sagte er zu
mir:
,Sie hat als Sünderin gelebt, aber sie stirbt als Christin.' Bald
darauf kam er wieder in Begleitung eines Chorknaben, der das
Kruzifix trug, und eines Mesners, der vor ihnen einherschritt und
sein Glöckchen ertönen ließ, zum Zeichen, daß Gott zu einer
Sterbenden komme.
Sie gingen alle drei ins Schlafzimmer, das einst so ganz andere
Worte erfüllt hatten. In diesem Augenblicke war es nur noch ein
heiliges Tabernakel.
Ich kniete nieder. Ich weiß nicht, wie lange der Eindruck, den mir
dieser Vorgang machte, anhalten wird. Aber ich glaube nicht, daß
mich jemals, ehe ich selber soweit bin, etwas Menschliches derart
beeindrucken wird. Der Priester salbte die Füße, die Hände und die
Stirn der Sterbenden mit heiligen ölen. Er sprach ein kurzes Gebet.
Dann war Marguerite für ihre himmlische Reise vorbereitet. Wenn
Gott die Prüfungen ihres Lebens und die Heiligkeit ihres Sterbens
gesehen hat, dann wird er sie sicher zu sich in den Himmel holen.
Sie sprach dann kein Wort mehr und bewegte sich auch nicht mehr.
Zwanzigmal glaubte ich, es sei schon zu Ende, wenn ich nicht noch
ihren angestrengten Atem gehört hätte.
Alles ist vorüber.
20. Februar, fünf Uhr abends Heute nacht, etwa um zwei Uhr, begann
Marguerites Todeskampf. Kein Märtyrer kann derartige Qualen
erduldet haben, wenn ich an die Schmerzensschreie denke, die sie
ausstieß. Zwei oder dreimal richtete sie sich kerzengerade im Bett
auf, als wolle sie ihr Leben, das zu Gott emporschwebte, noch
einmal zurückhalten. Und drei- oder viermal sprach sie Ihren Namen
aus. Dann sank sie stumm und erschöpft auf ihr Lager. Stille Tränen
rannen aus ihren Augen, und sie starb.
Ich kniete neben ihrem Bett nieder, rief sie bei ihrem Namen, aber
sie gab kein Lebenszeichen mehr von sich. Da schloß ich ihr die
Augen und küßte sie auf die Stirn. Liebe, arme Marguerite. Wie
gerne wäre ich eine Heilige, um dich mit diesem Kuß Gott zu
empfehlen!
Dann kleidete ich sie so an, wie sie es sich gewünscht hatte, und
holte einen Priester von Saint-Roche. Ich zündete zwei Kerzen für
sie an und habe zwei Stunden in der Kirche für sie
gebetet.
Ihr weniges restliches Geld gab ich den Armen. Ich bin in der
Religion nicht sehr gut bewandert, aber ich glaube, Gott hat
erkannt, daß meine Tränen von Herzen kamen, daß meine Gebete
inbrünstig und meine Almosen aufrichtig waren. Er wird sich ihrer
erbarmen. Sie mußte so jung und blühend sterben und hatte niemanden
als mich, der ihr die Augen schloß.
22. Februar Heute war das Begräbnis. In der Kirche waren viele
Freunde von Marguerite. Einige von ihnen vergossen aufrichtige
Tränen. Als der Leichenwagen sich zum Montmartre hin in Bewegung
setzte, folgten ihm nur zwei Leidtragende, der Graf von G..., der
sofort aus London herbeigeeilt war, und der Herzog, den zwei Diener
stützten. Ich schreibe Ihnen dies alles in Marguerites Wohnung. Ich
weine. Eine Lampe beleuchtet traurig die unberührten Speisen. Aber
Nanine hat sie mir gebracht, da ich seit vierundzwanzig Stunden
nichts gegessen habe.
In meinem Leben werden die traurigen Erinnerungen nicht lange
vorherrschen, denn es gehört ebensowenig mir selber, wie
Marguerites Leben ihr noch gehörte. Darum schreibe ich alle
Einzelheiten sogleich nieder, denn ich fürchte, wenn sich Ihre
Rückkehr noch lange hinauszögert, später nicht mehr fähig zu sein,
Ihnen alles mit trauriger Genauigkeit berichten zu
können.«